Diese Frage analysieren wir mithilfe des in Tübingen Mitte März 2021 gestarteten Modellprojekts. Das Experiment bestand darin, dass mit Wirkung zum 16.3.2021 in der Tübinger Innenstadt alle Geschäfte, Außengastronomie, Theater und Kinos wieder für alle Kundinnen und Kunden öffnen dürfen. Voraussetzung war ein tagesaktueller negativer Schnelltests, der an einer der zu diesem Zwecke aufgestellten Teststationen abgenommen wurde. Über die Innenstadt verteilt wurden insgesamt 9 Teststationen bereitgestellt, an denen sich jede interessierte Person ohne Anmeldung kostenlos testen lassen konnte. Bei negativem Test wurde ein „Tübinger Tagesticket“ ausgestellt, anfangs in Form eines Papiertickets, später in Form eines Armbands mit QR-Code.
Mitte März war Tübingen damit die einzige Stadt in Deutschland, in dem in der Innenstadt ein weitgehend normales Leben für alle diejenigen möglich war, die einen negativen Schnelltest vorweisen konnten. In einer neuen Studie nutzen wir diese Situation aus, um die Wirkung umfassenden Testens zu evaluieren (siehe Diederichs et al., 2021).
Der Kern der Analyse ist der quasi-experimentellen Charakter des Tübinger Modellprojekts. Hierfür konstruieren wir eine „synthetische“ Kontrollgruppe Tübingen, die ein gewichteter Durschnitt anderer Landkreise in Deutschland ist. Die Landkreise werden dabei so gewählt, dass die Entwicklung der Infektionszahlen in der Kontrollgruppe in den Wochen vor Beginn des Tübinger Experiments möglichst exakt mit der Entwicklung im Landkreis Tübingen übereinstimmt. Wir führen unsere Analyse auf der Ebene der Landkreise durch, da die offiziellen Daten auf Ebene der Landkreise vorliegen und Wirkung des Tübinger Experiments nicht auf die Stadt Tübingen beschränkt ist.
Abbildung 1 zeigt die 7-Tage-Inzidenz (pro 100.000) Einwohner in Tübingen (durchgezogene Linie) und in der synthetischen Kontrollgruppe mit Landkreisen aus Baden-Württemberg (gestrichelte Linie).
Die Abbildung zeigt, dass die 7-Tage-Inzidenz nach dem 16. März zunächst weitgehend parallel ansteigt. Dies legt nahe, dass der unmittelbar nach dem Beginn des Experiments zu beobachtende Anstieg der Fallzahlen nicht kausal auf das Experiment zurückzuführen ist, sondern die allgemeine Entwicklung in Deutschland und Baden-Württemberg widerspiegelt. Dieses Bild ändert sich etwa 14 Tage nach Beginn des Experiments. Ab hier steigen die Zahlen in Tübingen deutlich stärker als in der Kontrollgruppe, sodass sich eine deutliche Lücke in den Verläufen ergibt. Gegen Ende des Beobachtungszeitraums schließt sich die Lücke wieder langsam. Der Höhepunkt der Fallzahlen in unserem Beobachtungszeitraum liegt in etwa 2.5 Wochen nach Beginn des Experiments, und wir beobachten hier im Landkreis Tübingen eine 7-Tage-Inzidenz von 144. Ohne die Öffnungen im Rahmen des Tübinger Modells hätten wir nach unseren Analysen eine Inzidenz von etwa 100 beobachtet.
Bei der Interpretation dieser Ergebnisse ist ein wichtiger Punkt zu beachten: wenn mehr asymptomatische Personen getestet werden – wie das in Tübingen der Fall ist – dann steigt auch die Wahrscheinlichkeit, mehr positive Fälle zu finden. Es ist daher möglich, dass ein Teil der Fälle, die in den Tübinger Zahlen enthalten sind, allein darauf zurückzuführen ist, dass während des Tübinger Modells jede Woche etwa 30.000 zusätzliche Tests vorgenommen wurden. Dies ist bei einer Bevölkerung in der Stadt von 90,000 und im Landkreis von 230,000 eine erhebliche Menge an Tests, sodass die Zahl an Tests pro Kopf die sehr weit über dem Bundesdurchschnitt liegt. Unsere Rechnungen zeigen, dass die Zunahme bei der Inzidenz durch das vermehrte Testen zu einem nicht unbeträchtlichen Teil, aber nicht vollständig erklärt werden kann.
Fazit: Das Tübinger Modell (teilweises Öffnen bei gleichzeitiger Ausweitung von Schnelltests) führte zu einem messbaren, allerdings kleinen und tendenziell temporären Anstieg der Siebentagesindzidenz im Landkreis Tübingen.