Lehren aus den Evaluationsprojekten – Einschätzung vom 30. Mai 2021

Nach dem Vorstellen der Evaluationsergebnisse für Augustusburg und Tübingen stellte sich die Frage nach den Lehren für zukünftige Modellprojekte. Die unten folgenden Fragen stammen von Ingolf Rosendahl, Freie Presse. Die Antworten erschienen in leicht angepasster Form in der Freien Presse.

  • Welche Erfahrungen für einen konstruktiven Umgang mit der Krise konnten Sie in Augustusburg sammeln?
Das Vorhandensein und sorgfältige Ausführen verlässlicher Schnelltests scheint öffentliches Leben mit Sozialkontakten auch in Zeiten hoher Infektionszahlen zu erlauben. Diese Hoffnung wird durch das Modellprojekt in Augustusburg gestärkt. Es sind aber in der Tat nur erste Erfahrungen, die wir aktuell mit Projekten dieser Art sammeln. Grundsätzlich zeichnen sich zwei Arten von Modellprojekten ab. Projekte auf der Gemeindeebene, wo Öffnungsmaßnahmen primär für Bewohner dieser Gemeinde durchgeführt werden. Die Auswirkung solcher Maßnahmen können leicht über bereits vorhandene Daten auf der Gemeindeebene, etwa Siebe-Tage-Inzidenzen, besser tägliche Fallzahlen, bestimmt werden. Die Datenerhebung und -übermittlung sowie die sich daraus ergebende Datenqualität müsste jedoch für zukünftige Projekte besser verstanden werden.
Anders schaut es bei Projekten mit vielen externen Gästen aus, etwa bei Gemeinden mit hohen Tourismuszahlen oder Spezialprojekten wie das Öffnen von Schwimmbäder. Hier sind (anonymisierte) Individualdaten nötig. Jede Person im Modellprojekt muss einen negativen Schnelltest vor Besuch etwa eines Schwimmbads vorlegen. Fünf bis sieben Tage danach muss ein sogenannter Abschlusstest bei jeder Person durchgeführt werden. Nur darüber lässt sich feststellen, ob der Besuch einer Veranstaltung, bleiben wir beim Schwimmbad, zu einem erhöhten Infektionsrisiko führt.
  • Welche Handlungsempfehlungen geben Sie nach Auswertung der gesammelten Daten?
Zum einen sollte die Kooperation zwischen Testzentren und Gesundheitsämter gestärkt werden. Die Datenübermittlung muss automatisiert erfolgen und das Gesundheitsamt, oder eine andere Behörde auf Landesebene, sollte die Art der Tests und deren Durchführung auf Qualität überprüfen. Ohne geplanten Projekten unlautere Intentionen unterstellen zu wollen, kann ein Projektleiter nicht sich selbst überprüfen. Schnelltests und Abschlusstests überprüfen ein Modellprojekt, das muss von einer unbeteiligten Stelle zumindest begleitet werden.
Ein Abschlusstest muss von nahezu 100% aller Veranstaltungsbesucher durchgeführt werden. Stellen wir uns 100 Besucher eines Schwimmbads vor, 70 davon liefern nach einer Woche einen (positiven oder negativen) Abschlusstest. Was ist mit den anderen 30? Hatten sie alle eine Infektion? Dann würde das Ergebnis für das Modellprojekt schlecht ausfallen. Oder sind sie alle mit dem gleichen Anteil negativ wie diejenigen, die einen Test abgegeben haben? Dann würde die Evaluation besser ausfallen. Man benötigt also zur Evaluation von Spezialprojekten sehr viele Abschlusstests, eben von nahezu 100% aller Teilnehmer.
Ein so hoher Anteil von übermittelten Abschlusstests ist nach meiner aktuellen Einschätzung nur durch politische Unterstützung der Landesregierung möglich. Eine Corona-Verordnung muss das Nichtabliefern eines Abschlusstests zu einer Ordnungswidrigkeit erheben. Wer zu schnell mit dem Auto fährt, muss ein Bußgeld zahlen. Genauso müsste es für Abschlusstests sein. Andernfalls erscheint es mir nicht möglich, den Einfluss von speziellen Öffnungsmaßnahmen auf das Infektionsgeschehen seriös abzuschätzen. Gerne bin ich aber für andere Ideen offen.
Das Vorliegen eines positiven Schnelltests muss an die Gesundheitsbehörde gemeldet werden. Ein anschließender PCR Test muss zur Pflicht gemacht werden und das Ergebnis muss an das Schnelltestzentrum zurückgemeldet werden. Sonst herrscht nie Klarheit über die praktische Genauigkeit von Schnelltests.
  • Ist das Modellprojekt komplett auf andere Kommunen übertragbar?
Das ist eine schwierige Frage. Das Modellprojekt lief sehr gut in Augustusburg. In vergleichbaren Modellprojekten lief es jedoch weniger gut. Zum aktuellen Zeitpunkt ist es also nicht so einfach möglich, eine Blaupause für andere Projekte zu liefern. Ein Punkt unterscheidet Augustusburg jedoch von anderen (mir bekannten) Modellprojekten: Die qualitativ sehr hochwertige Erfassung der Teilnehmer. Es liegen nicht nur (anonymisierte) Daten der Schnelltests vor, es ist auch auf die Minute genau bekannt, an welchen Veranstaltungen (Gaststätte, Museum, Hotel) eine Person teilgenommen hat. Personen haben sich bei jeder Veranstaltung eingescannt und ausgescannt. Das verhindert, dass Nichtgetestete sich in Modellprojekte "reinschmuggeln". Das vermittelt vermutlich auch ein Gefühl der Wichtigkeit, die üblichen Hygieneregeln weiterhin zu beachten. Ein solches IT System, verbunden mit der notwendigen fachlichen Begleitung, würde ich mir für andere Projekte wünschen.
Weiterhin erscheint die Qualität der Schnelltests entscheidend. Dabei geht es zwar auch um die medizinisch-technische Qualität der Tests an sich, vielmehr aber um deren Anwendung. Vermutlich sind Tests von geschultem Personal Selbsttests vorzuziehen. Auch hier würde Gesundheitsämtern eine größere Rolle als bisher zukommen.
  • Ist angesichts der jetzt angekündigten Öffnungen die Zeit der Modellprojekte vorbei?
Ich hoffe, dass unsere Forschungsergebnisse zu Modellprojekten keine praktische Relevanz mehr haben. Ich hoffe sehr, die Pandemie ist vorbei. Ich hoffe, dass wir keine Modellprojekte mehr benötigen. Wir alle kennen jedoch die Argumente und Sorgen bezüglich Mutanten, Herdenimmunität und dem kommenden Herbst und Winter. Es ist also unklar, wie es weitergeht. Auf jeden Fall haben wir anderes als nur Verbieten ausprobiert. Auf jeden Fall haben wir Erfahrung gesammelt. Wenn die Datenqualität auf Gemeindeebene verbessert wird, dann sind Modellprojekte für Gemeinden sehr schnell qualitativ hochwertig möglich. Wenn die Verbindung von Testzentren zu Gesundheitsämtern enger und das Nicht-Abliefern von Abschlusstests eine Ordnungswidrigkeit wird, dann sind Spezialprojekte bzw. Projekte mit hohem Tourismusanteil auch möglich.
  • Hätte man den bundesweiten Lockdown vermeiden können, wenn man stattdessen flächendeckend getestet hätte?
Natürlich hätten Lockdowns seit März 2020 vermieden werden können, wenn Schnelltests möglich gewesen wären. Allein, Schnelltests standen nicht zur Verfügung. Die Möglichkeit, Schnelltests in großer Zahl, ausreichend günstig und mit ausreichend hoher Qualität durchzuführen bestand erst seit etwa März 2021. Kann man nun im Umkehrschluss argumentieren, man benötigt überhaupt keine Kontaktbeschränkungen mehr? Ich könnte mich etwas aus dem Fenster lehnen und mit "ja, wenn" antworten. Würde man jede Person (Kinder, Erwachsene, Schüler, Studenten, Arbeitnehmer, Rentner, einfach alle, die ihre vier Wände verlassen) alle 3 Tage testen, dann würde man infektiöse Personen vermutlich in ausreichendem Maße identifizieren. Wenn (und das ist die entscheidende Bedingung) man dann sicherstellen könnte, dass alle infektiösen Personen tatsächlich in Quarantäne gehen und bleiben (dazu ist u.U. mehr Überwachung notwendig als bisher, technische Möglichkeiten gäbe es), dann ist die Pandemie in 1-2 Wochen vorbei, da Infektiöse niemanden mehr anstecken. Einen Haken muss das Argument jedoch haben, schließlich gibt es seit März Schnelltests und im April und Mai dauerte die Pandemie noch an. Aber vielleicht ist sie ja nun im Juni vorbei. Vielleicht ist ja alles den Schnelltests zu verdanken. Gegeben die (mal wieder nicht perfekte) Datenlage werden wir das leider nie mit Sicherheit wissen.