Einordnung von CoV-2 Infektionen und Covid-19 in Deutschland: Einschätzung vom 30. Dezember

[gemeinsam mit Bodo Plachter und Felix Schulz] Die vorliegende Einschätzung verfolgt das Ziel, zum einen alle öffentlich verfügbaren Daten zum aktuellen Pandemieverlauf vorzustellen, zum anderen aber ebenfalls, diese etwas einzuordnen. Um die verfügbaren Daten zu strukturieren beginnen wir erst mit einer einfachen Darstellung des möglichen Verlaufs einer Covid-19 Erkrankung. Danach werden die Daten vorgestellt und eingeordnet.[1] Abschließend wird ein Ausblick auf die für die kommenden Monate zu erwartenden gesundheitspolitischen Maßnahmen gegeben.

  • Die 5 Stufen

Der Infektionsverlauf mit SARS-CoV-2 kann in 5 Stufen eingeteilt werden. Zunächst erfolgt eine Infektion mit dem SARS-Coronavirus 2. Danach entwickelt sich die Coronavirus Erkrankung (Covid-19) mit den entsprechenden ausgeprägten Atemwegsproblemen. Wird der Krankheitsverlauf aus Sicht des Erkrankten als untersuchungs- oder behandlungswürdig eingestuft, stellt er sich bei einem niedergelassenen Arzt oder in der Notaufnahme in einer Klinik vor (Stufe 2). Bei schwerem Verlauf der Erkrankung erfolgt gegebenenfalls die stationäre Aufnahme (Stufe 3). Verschlechtert sich der Gesundheitszustand weiter, wird der Patient auf die Intensivstation verlegt (Stufe 4). Im schlimmsten Fall verstirbt der Patient (Stufe 5).

In der überwiegenden Anzahl der Fälle kommt es zu einer Ausheilung. Die Anzahl der Patienten in den einzelnen Stufen nimmt ab, einzelne Stufen können auch übersprungen werden.

  • Die Daten

Die bekannteste und am meisten beachtete Kenngröße ist die Anzahl der gemeldeten mit SARS-CoV2 infizierten Personen. Diese wird täglich vom Robert-Koch-Institut gemeldet (RKI 2020). Diese Anzahl wird in der folgenden Abbildung dargestellt.

Abbildung 1: Der Verlauf der täglichen gemeldeten diagnostizierten CoV-2 Fälle (Durchschnitt über die letzten 7 Meldungen)

Eine zweite sehr beachtete Zeitreihe beschreibt die Anzahl der belegten Betten auf Intensivstationen. Sie ist öffentlich zugänglich (https://www.intensivregister.de, RKI 2020c, Karagiannidis et al. 2020).

Abbildung 2: Die Anzahl der belegten Betten mit Covid-19 Patienten auf Intensivstationen und davon die beatmeten Fälle

Als Drittes wird die Anzahl der mit Covid-19 assoziierten Todesfälle ebenfalls vom RKI erfasst und auf dessen Dashboard zur Verfügung gestellt (RKI, 2020, 2020d).

Abbildung 3: Die Anzahl der mit Covid-19 in Verbindung stehenden Todesfälle zum Veröffentlichungsdatum durch das RKI (Durchschnitt über die letzten 7 Veröffentlichungen)

  • Einordnung

Die Anzahl der gemeldeten, SARS-CoV-2 Infektionen muss von den tatsächlichen Neuinfektionen in einem Land unterschieden werden. Die tatsächliche Anzahl der Neuinfektionen ist aus mehreren Gründen nicht beobachtbar. Zum einen muss zwischen symptomatischen und asymptomatischen Verläufen einer Infektion unterschieden werden. Eine Metaanalyse von Buitrago-Garcia (2020) kommt zu dem Schluss, dass die meisten der 94 verwendeten Studien eine Selektionsverzerrung aufwiesen. Nach Aussage der Autoren kann davon ausgegangen werden, dass SARS-CoV-2 Infektionen in einer Größenordnung von etwa 31% asymptomatisch verlaufen. Asymptomatische Infektionen haben eine viel geringere Wahrscheinlichkeit, erfasst zu werden.

Zum anderen spielt die Verfügbarkeit von Tests und der Grund der Testung eine große Rolle. Kapazitätsprobleme und vermutlich organisatorische und institutionelle Gründe verhinderten es bisher, systematische wöchentliche repräsentative Tests auf CoV-2 durchzuführen. Da die Häufigkeit der Testgründe (u.a. Symptome, Reiserückkehrer, Nachverfolgung) über die Zeit schwankt, werden manche Infektionen erfasst, manche nicht. Wenn man also zwischen Neuinfektionen und diagnostiziert-gemeldeten Fällen unterscheidet, stellt sich aus statistischer Sicht die Frage, ob letztere einen guten Schätzer für die wahre Anzahl der Neuinfektionen darstellen (Wälde, 2020 a, b, c). Für die Stufe 1 einer Covid-19 Erkrankung, die Anzahl der CoV-2 Infektionen, die zu einer Erkrankung führen können oder auch nicht, liegen also nur unzureichende Daten vor.

Die Anzahl der gemeldeten, durchgeführten Tests ist ebenfalls öffentlich verfügbar (RKI, 2020e) und wird im Folgenden dargestellt. Wie bei den tatsächlichen Neuinfektionen werden dabei nicht alle durchgeführten Tests erhoben. Inwieweit es sich bei den freiwillig teilnehmenden Laboren und Kliniken um eine repräsentative Auswahl handelt, kann aktuell nicht festgestellt werden. Siehe Staat et al. (2020) für eine detaillierte Beschreibung.

Abbildung 4: Die Gesamtanzahl aller durchgeführten Tests auf SARS-CoV2 (RKI, 2020e, links) und die daraus resultierende Positivrate zu demselben Datum (rechts)

Das Verhältnis von positiven Tests zu gemeldeten Tests wird als Positivrate ausgewiesen.[2] Diese wird häufig als guter Indikator für die Schwere einer Epidemie gesehen. Die Interpretation der Positivrate ist jedoch sehr schwierig, da z.B. der Grund für einen Test nicht bekannt ist (Wälde, 2020c).

Die Anzahl der Covid-19 Fälle in Deutschland (Stufe 2) wird nicht erfasst bzw. zentral ausgewertet. (In diesem Sinn ist die Bezeichnung der CoV-2 Fälle auf dem Dashboard des RKI (RKI, 2020) als „Covid-19“ Fälle irreführend. Es werden tatsächlich SARS-CoV-2 Nachweise vom RKI ausgewiesen.) Die Anzahl der Einweisungen ins Krankenhaus (Stufe 3) ist öffentlich nicht verfügbar. Jeder einzelnen Klinik liegen diese Daten vor, sie werden u.U. von Verbänden zusammengefasst, jedoch nicht weitergegeben.

Informationen zur Belegung von Intensivbetten mit Covid-19 Fällen (Stufe 4) erscheinen sehr vertrauenswürdig. Bei den Daten (RKI, 2020c) ist von einer Vollerhebung auszugehen, da seit dem 9. April 2020 eine Meldepflicht für intensivmedizinische Behandlungskapazitäten herrscht (DIVI Intensivregister-Verordnung). Diese Zeitreihen in Abbildung 2 und Abbildung 5 zeigen klar, dass eine zweite Welle vorliegt. Dies wird auch durch die Anzahl der Todesfälle in Abbildung 3 belegt.

Abbildung 5: Die Anzahl der belegten Betten mit Covid-19 Patienten auf Intensivstationen, die Anzahl aller belegten Intensivbetten sowie die Kapazität an Intensivbetten (links) und freie Intensivbettenkapazitäten nach Versorgungsgraden (rechts).

Die Datengrundlage für Abbildung 5 links sind die im Archiv des RKI gelisteten tagesaktuellen CSV-Tabellen. Da die Tabellen keine Differenzierung nach Versorgungsstufen erlauben, werden diese Daten aus den PDF-Tagesberichten des RKI bezogen. Aufgrund regelmäßiger Änderungen der Abfrageverfahren des RKI im Betrachtungszeitraum sind die Daten der Zeitreihe schwer vergleichbar. Zentrale Stichtage mit Veränderungen sind in der Abbildung grau markiert: am 16.4. tritt die DIVI-Intensivregister-Verordnung in Kraft. Am 3.6. wird diese angepasst, wodurch sich die tägliche Meldestichzeit verschiebt. Am 3.8. kommt es zu einer Veränderung des Meldeverfahrens, auf Grund derer eine Anzahl vorher als frei gemeldeter Kapazitäten in die hier nicht abgebildete Notfallreserve aufgenommen werden.[3]

Abbildung 5 erscheint aus zwei Gründen interessant. Zum einen kann der Anteil der Covid 19 Fällen an allen Fällen auf Intensivstationen relativ bestimmt werden. Er liegt zwischen wenigen Prozentpunkten im Sommer und aktuell etwa 19%. Zum anderen scheint die Gesamtauslastung von Intensivstationen von der Anzahl der Covid-19 Patienten nicht beeinflusst zu werden. Die rechte Abbildung zeigt jedoch klar, dass die Anzahl der freien Kapazitäten stark zurückgeht. Auch dies ist ein untrügliches Zeichen für die zweite Welle.

Abbildung 6: die Altersstruktur der CoV-2 Infektionen (links) und der Todesfälle (rechts)

Als letztes betrachten wir die Altersstruktur der Infizierten und der Todesfälle (RKI, 2020). Die Abbildung zeigt eindeutig, dass alle Altersgruppe von Infektionen betroffen sind. Die Todesfälle betreffen jedoch zu etwa 90 % Menschen ab 60 Jahren.

Abbildung 7: Die linke Abbildung zeigt die Anzahl der Todesfälle im Zusammenhang mit Covid-19 (Durchschnitt über die letzten 7 Tage, blau) und die gesamte Anzahl der Todesfälle in 2020 (grün) und im Jahresdurchschnitt 2016 bis 2019 (rot). Die rechte Abbildung zeigt die Anzahl der Todesfälle insgesamt in 2020 und der Durchschnitt 2016 bis 2019 in vergrößertem Maßstab

Die mit Covid-19 im Zusammenhang stehenden Todeszahlen (RKI, 2020d) werden gemeinsam mit täglichen Todesfällen (Statistisches Bundesamt, 2020) in Abbildung 7 dargestellt. Auch hier kann der Anteil der Covid-19 Fälle relativ zu allen Fällen abgelesen werden. Er beträgt zwischen annähernd 0% im Sommer 2020 und 11,16% aktuell.

Eine häufig gestellte Frage im Zusammenhang mit Covid-19 betrifft die Frage der Übersterblichkeit. Übersterblichkeit wird verstanden als die Differenz der Todesfälle im aktuellen Jahr relativ zu Todesfällen in vorherigen Jahren (hier der Durchschnitt von 2016 – 2019). Nach dieser Sichtweise führte die erste Welle mit Covid-19 Todesfällen in der Tat zu einer Übersterblichkeit („2020 alle“ liegt über „Durchschnitt 2016 – 2019“). Die Übersterblichkeit seit August scheint nicht direkt mit Covid-19-Todesfällen im Zusammenhang zu stehen.

  • Mögliche gesundheitspolitische Konsequenzen der Impfungen

Die Todesfälle in Abbildung 6 (rechts) weisen Covid-19 für Menschen ab 60 und vor allem ab 80 als eine lebensbedrohende Gefahr aus. Wenn es durch Impfungen gelingt, diese Gruppe zu schützen, erscheint die Pandemie ihren größten Schrecken zu verlieren. Es wird aktuell erwartet, dass man bis Ende Februar etwa 6 Millionen ältere Personen in Deutschland geimpft hat. Wenn dadurch die Belegung der Intensivstationen und der Krankenhäuser deutlich sinkt, dann wäre das ausgesprochene Hauptziel politischer Entscheidungsträger erreicht – das Gesundheitssystem nicht zu überlasten. Die Höhe der Neuinfektionen oder 7-Tages-Indizes könnten dann als Grundlage gesundheitspolitischer Maßnahmen in den Hintergrund treten. Infektionen verteilen sich zwar auf alle Altersgruppen (Abbildung 6, links), jedoch stellen diese Infektionen für bis-60-jährige (genauer vermutlich: für Menschen ohne Vorerkrankungen) keine lebensbedrohende Gefahr dar. (Häufig wird vor Langzeitfolgen auch schwacher Erkrankungsverläufe gewarnt. Diesen möglichen Langzeitfolgen stehen sichere unmittelbare Folgen gesundheitspolitischer Maßnahmen gegenüber.) Wenn ältere Mitmenschen und Menschen mit Vorerkrankungen durch Impfungen geschützt wären, und dies mag auch bis Ende März oder April dauern, können Entscheidungen wieder verstärkt den Einzelnen überlassen werden. Entscheidend wird sein, wie schnell Intensivstationen durch Impfungen entlastet werden.

Referenzen

Buitrago-Garcia, D., D. Egli-Gany, M. J. Counotte, S. Hossmann, H. Imeri, A. Mert Ipekci, G. Salanti, und N. Low, 2020, Occurrence and transmission potential of asymptomatic and presymptomatic SARSCoV-2 infections: A living systematic review and meta-analysis. PLoS Med 17(9): e1003346. https://doi.org/10.1371/journal.pmed.1003346

Donsimoni, J.R., R. Glawion, T. Hartl, B. Plachter, J. Timmer, E. Weber, K. Wälde und C. Weiser., 2020, Covid-19 in Deutschland – Erklärung, Prognose und Einfluss gesundheitspolitischer Maßnahmen. Perspektiven der Wirtschaftspolitik 21 (3): 250–262

Dorn, F., C. Fuest, D. Gstrein, A. Peichl und M. Stöckli, 2020, Corona-Infektionen und die Dunkelziffer: Vergleichen wir Äpfel mit Birnen?, ifo Schnelldienst Digital 1(12).

ESRI, Bundesamt für Kartographie und Geodäsie, RKI, 2020, RKI_COVID19: CSV mit den aktuellen Covid-19 Infektionen pro Tag (Zeitreihe), https://www.arcgis.com/sharing/rest/content/items/f10774f1c63e40168479a1feb6c7ca74/data

Karagiannidis, C., C. Mostert, C. Hentschker, T. Voshaar, J. Malzahn, G. Schillinger, J. Klauber, U. Janssens, G. Marx, S. Weber-Carstens, S. Kluge, M. Pfeifer, L. Grabenhenrich, T. Welte und R. Busse, 2020, Case characteristics, resource use, and outcomes of 10021 patients with COVID-19 admitted to 920 German hospitals: an observational study, Lancet Respir Med 8(9), S. 853–62 .

Meldeformular, ohne Datum, Meldepflichtige Krankheiten gemäß §§ 6, 8, 9 IfSG,
https://www.kv-rlp.de/fileadmin/user_upload/Downloads/Mitglieder/Coronavirus/Meldepflichtige_Krankheit_Meldeformular.pdf

Mitze, T., R. Kosfeld, J. Rode, and K. Wälde, 2020, Face Masks Considerably Reduce Covid-19 Cases in Germany - A synthetic control method approach. CESifo Working Paper No. 8479.

RKI, Robert Koch Institut, 2020, Covid-19 Dashboard,

https://experience.arcgis.com/experience/478220a4c454480e823b17327b2bf1d4

RKI, Robert Koch Institut, 2020b, Nationale Teststrategie – wer wird in Deutschland auf das Vorliegen einer SARS-CoV-2 Infektion getestet?,

https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Teststrategie/Nat-Teststrat.html

RKI, Robert Koch Institut, Intensivregister-Team am RKI, 2020c, Tagesreporte aus dem DIVI-Intensivregister, https://edoc.rki.de/handle/176904/7011

RKI, Robert Koch Institut, 2020d, Gesamtübersicht der pro Tag ans RKI übermittelten Fälle, Todesfälle und 7-Tages-Inzidenzen nach Bundesland und Landkreis, https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Daten/Fallzahlen_Kum_Tab.html

RKI, Robert Koch Institut, 2020e, Erfassung der SARS-CoV-2-Testzahlen in Deutschland, https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Testzahl.html

Staat D., Stern D., Seifried J., Böttcher S., Albrecht S., Willrich N., Zacher B., Mielke M., Rexroth U. and Hamouda O., 2020, Erfassung der SARS-CoV-2-Testzahlen in Deutschland (Stand 4.11.2020), Epid Bull 2020; 45:16 –20, http://doi.org/10.25646/7202

Statistisches Bundesamt (Destatis), 2020, Sterbefälle - Fallzahlen nach Tagen, Wochen, Monaten, Altersgruppen und Bundesländern für Deutschland 2016 – 2020, https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Sterbefaelle-Lebenserwartung/Tabellen/sonderauswertung-sterbefaelle.html

Verordnung zur Aufrechterhaltung und Sicherung intensivmedizinischer Krankenhauskapazitäten (DIVI IntensivRegister-Verordnung) vom 8. April 2020

Wälde, K., 2020, How to Remove the Testing Bias in CoV-2 Statistics, IZA Discussion Paper No. 13785, http://ftp.iza.org/dp13785.pdf

Wilder-Smith, A., C. Chiew, and V. Lee (2020), Can we contain the COVID-19 outbreak with the same measures as for SARS?, Lancet Infect Dis.

 

[1] Wir verwenden Daten bis einschließlich 23. Dezember 2020. Spätere Daten können aktuell aufgrund der Feiertage und der damit verbundenen Unregelmäßigkeiten in der Datenübertragung schwer interpretiert werden.

[2] Siehe auch https://www.intensivregister.de/#/faq: „Hinweis: Die Angaben zur Anzahl der freien betreibbaren Bettenkapazitäten haben sich in den folgenden Meldungen reduziert. Die Daten legen nahe, dass ein Teil der vorher gemeldeten freien Bettenkapazitäten nun als Notfallreservekapazität gemeldet wird.“

[3] Die Anzahl der gemeldeten Infizierten (RKI, 2020) liegt meist unter der Anzahl der positiven Tests (RKI, 2020e).