Wie sollen die bestehenden Kontaktregeln weiter gelockert werden? Soll es deutschlandweit einheitliche Regeln geben, oder sollen diese nach Bundesländern oder sogar Landkreisen unterschiedlich gestaltet werden?
Allgemein akzeptiertes und weit verbreitetes statistisches Wissen verlangt nach einer Lockerung, die sich auf zufällige Weise von Landkreis zu Landkreis unterscheidet. Dies erlaubt, die Ansteckungswege mit SARS-CoV-2 am schnellsten zu verstehen. Dieses Vorgehen reduziert Infektionszahlen und Krankentage, rettet Menschenleben und spart Geld.
Bis 13. März 2020 gab es keine systematischen Regeln für private oder berufliche soziale Kontakte in Deutschland. Zwischen 14. März und 19. April 2020 waren, bis auf wenige Ausnahmen, die Regeln in den einzelnen Bundesländern relativ einheitlich. Mit der ersten Lockerungswelle seit dem 20. April unterscheiden sich die Regeln zwischen den Bundesländern oder Landkreisen stärker.
Niemand in Deutschland oder weltweit weiß auf einem wissenschaftlich gesicherten Niveau, was die Ausbreitungswege von Covid-19 in Deutschland sind. Ist das Tragen von Masken sinnvoll, sollen Kindergärten oder Schulen geschlossen werden, welchen Effekt haben die Schließungen von kleineren Läden oder von Geschäften mit mehr als 800 qm Verkaufsfläche?
- Das Prinzip: die randomisierte kontrollierte Studie
In der Statistik gibt es seit Jahrzehnten den Ansatz der randomisierten kontrollierten Studie. Dabei werden die Effekte verschiedener Interventionen (wie z.B. Masken, Schulschließung, Kontaktsperren) dadurch verstanden, dass Interventionen zufällig festgelegt werden. Dies führt zu einer Aufteilung (etwa von Landkreisen) in Studiengruppe und Kontrollgruppe. Der Vergleich der Ergebnisse zwischen diesen zwei Gruppen erlaubt die bestmögliche Beurteilung der Effekte der Interventionen.
Schnell zugängliche Einführungen sind Einträge in Wikipedia, wie z.B. https://de.wikipedia.org/wiki/Randomisierte_kontrollierte_Studie oder https://en.wikipedia.org/wiki/Randomized_controlled_trial. In der Ökonomie ist diese Methode der Goldstandard u.a. für die Entwicklungszusammenarbeit. Große Organisationen wie u.a. die Weltbank verwenden sie routinemäßig. Im Jahr 2019 gab es für diesen Ansatz den Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften, https://www.nobelprize.org/prizes/economic-sciences/2019/press-release/. Die Methode wird in einer Vielzahl von Lehrbüchern vermittelt und in unterschiedlichsten Disziplinen (u.a. Medizin, Psychologie, Soziologie, Wirtschaftswissenschaften) angewandt.
Eine oder mehrere Landesregierungen beschließen Lockerungsmaßnahmen, die sich zwischen Landkreisen unterscheiden. In einem Landkreis („Landkreis A“) werden die Kindergärten geöffnet, sonst bleiben die Regeln unverändert. In einem anderen Landkreis („Landkreis B“) werden bei ansonst unveränderten Regeln die Grundschulen geöffnet, in noch einem Landkreis („Landkreis C“) werden weiterführende Schulen geöffnet. Es können weitere Landkreistypen mit entsprechenden aktuell öffentlich diskutierten Lockerungsmaßnahmen festgelegt werden.
Nach dieser Festlegung der Lockerungsmaßnahmen wird jeder tatsächliche Landkreis eines Bundeslands auf zufällige Weise einem Landkreistyp zugeordnet. Die neuen Regeln gelten ab einem Stichtag. Zwei bis drei Wochen nach diesem Stichtag wird mit den offiziellen Infektionszahlen überprüft, was die Effekte der Lockerungsmaßnahmen sind.
Werden Menschen durch dieses Vorgehen zu Versuchskaninchen? Nein, das werden sie nicht durch dieses Vorgehen, das sind wir sowieso. Wenn Länder und Gemeinden unterschiedliche Maßnahmen festlegen, dann durchläuft jeder Landkreis ein eigenes „Experiment“. Würde man die Maßnahmen koordinieren, würden alle durch dieses sowieso stattfindende Experimentieren gewinnen.
Wäre ein solches Vorgehen ethisch vertretbar? Es sollte berücksichtigt werden, dass Lockerungsmaßnahmen in Regionen mit besonders hohen Infektionszahlen pro Einwohner nicht zu stark ausfallen. Somit wäre eine bedingte randomisierte Vorgehensweise empfehlenswert. Es gibt ethische Kriterien, die für ein solches Vorgehen sprechen („prozedurale Gerechtigkeit“) und ethische Kriterien, die es ablehnen (Unterschiede in Konsequenzen). Es ist jedoch zu vermuten, dass die ethischen Probleme ohne randomisiertes Vorgehen ähnlich groß sind. Sie sind nur etwas weniger sichtbar.
Wir betonen, dass dieses randomisierte Verfahren der Goldstandard in vielen Disziplinen ist. Es ist etwa in der Medizin die gängige Methode und dort allgemein akzeptiert. Gewonnene Erkenntnisse kämen natürlich auch all den Gruppen zugute, die zunächst keine zu großen Lockerungen erfahren. Dies wäre etwas später der Fall, dafür aber mit größerer Gewissheit, dass es zu keiner „zweiten Welle“ kommt. Regionen würden sich auch gegenseitig „versichern“: Sollten in einer Region die Infektionszahlen nach oben gehen, stünden in einer anderen Region Krankenhausbetten zur Verfügung. Natürlich kann das Vorgehen auch zeigen, dass manche Lockerungsmaßnahmen schneller umgesetzt werden können als gedacht.
- Wo wir in einem Monat stehen werden
Niemand möchte eine zweite Infektionswelle, alle möchten mehr Freiheiten und ein Wiederanfahren wirtschaftlicher Aktivitäten. Unabhängig von den weiteren Lockerungsmaßnahmen zugrundeliegenden Überlegungen werden wir in Deutschland in einem Monat auf Infektionszahlen, Reproduktionsraten, Anzahl der Notfallpatienten, Infektionszahlen pro Einwohner, die Abflachung der Kurve und vieles mehr schauen. Die Frage ist, was wir aus alle dem verstehen und lernen können. Die Frage wird sein, was wir im Herbst oder zu eventuellen späteren Zeitpunkten aus diesem Sommer bezüglich der Infektionswege gelernt haben. Wenn politische Entscheidungsträger Lockerungsmaßnahmen nach den Prinzipien randomisierter kontrollierter Studien durchführen, dann werden wir am schnellsten lernen, welche Maßnahmen am besten helfen – für die Gesundheit, für die Wirtschaft, für die Demokratie und unsere Gesellschaft.
Salvatore Barbaro, Professor für Volkswirtschaftslehre, Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Markus Frölich, Professor für Ökonometrie, Universität Mannheim
Philip Jung, Professor für Makroökonomie, Universität Dortmund
Reinhold Kosfeld, Professor für Statistik, Universität Kassel
Christian Merkl, Professor für Volkswirtschaftslehre, Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg
Thorsten Schank, Professor für angewandte Statistik und Ökonometrie, Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Jens Timmer, Professor für Theoretische Physik, Albert-Ludiwgs-Universität Freiburg
Reyn van Ewijk, Professor für Statistik und Ökonometrie, Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Hans-Martin v. Gaudecker, Professor für angewandte Mikroökonomie, Universität Bonn
Klaus Wälde, Professor für Volkswirtschaftslehre, Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Den Aufruf gibt es auch als pdf-Datei: Wissenschaftlicher Aufruf - Covid-19 Lockerungen systematisieren